- Tuktoyaktuk - Ganz am Ende der Straße
»Hast du Lust auf Tuktoyaktuk?«, hatte Ole Helmhausen gefragt. »Was ist das denn?« - Ich stand gerade komplett auf dem Schlauch. »Das Land der Pingos«, antwortete Ole geheimnisvoll. Und da ich Pinguine toll finde, stimmte ich zu, ohne zu wissen, wohin ich meinen liebsten Kanada-Autoren und Freund seit Studienzeiten begleiten würde. Wobei dieser Kurztrip jenseits des Polarkreises auf einem der jüngsten Super Highways Kanadas mit Pinguinen rein gar nichts zu tun haben sollte. Die putzigen Frackträger wohnen schließlich woanders.
Wochen später und kurz vor Mitternacht holt mich Ole am Flughafen von Whitehorse ab. Es ist Anfang Juni und taghell. Stolz zeigt er mir das Bild eines riesig scheinenden Fuchses, den er wenige Minuten zuvor mitten in der Stadt fotografiert hat. Das finde ich nach 13 Stunden von Stuttgart über London nach Vancouver und von dort zwei Stunden im Flieger weiter bis Whitehorse schon wieder interessant. Ich bin nach der langen Reise und zig Blockbustern zumindest entspannt genug, dass ich meinem Rucksack eine gute Reise hinter mir her wünsche. Mein Gepäck hat es bis jetzt gerade nach London geschafft und wird noch eine Weile bis zum Yukon und den Nordwestlichen Territorien unterwegs sein.
1.400 Kilometer pro Strecke im Truck Camper
Am nächsten Morgen sitzen wir in einem fünf Tonnen schweren Ford mit Caravan-Aufbau. Die Mitarbeiterinnen von Fraserway nennen ihn Truck Camper oder dem Modell entsprechend »Adventurer«. 1.400 Kilometer nach Tuktoyaktuk und wieder zurück wird er unser Zuhause sein. Wobei wir das mit dem Zurück jedenfalls hoffen. Denn wir dürfen mit dem Truck Camper nicht ins Gelände, und wo wir hinwollen, gibt es eigentlich nur Gelände.
Die Fahrt in Kanadas hohen Norden - ein Abenteuer für Mensch und Truck Camper.
Yukon und die Norwestlichen Territories - soooooo weit!
Noch in Whitehorse kaufen wir im Supermarkt ein, was wir auf der abenteuerlichen Reise vermutlich brauchen werden. Plus Ersatzklamotten für mich. Danach sind wir eine Weile auf der Straße zur historischen Goldgräberstadt Dawson City unterwegs. Kanada ist weit, und 532 Kilometer bis zu diesem Zwischenstopp sind für hiesige Verhältnisse ein Katzensprung.
Wir hauen den Tempomat rein und cruisen bequem durch eine weitgehend unbewohnte Landschaft. Die Glücksritter, die ab 1896 mühsam über Land zum Goldschürfen an den Klondike zogen, hätten unsere Art zu reisen sicher gemocht. Nicht alle konnten sich schließlich den Trip mit dem Schaufelraddampfer auf dem Mackenzie River, dem Yukon und dem Klondike leisten.
»Weak Shoulders« heißen die unbefestigten Straßenränder hier.
Vom Midnight Dome aus wirken Dawson City und seine Flüsse idyllisch.
Ab und zu lässt Ole mich bereits ans Steuer, und ich werde schon bald vertraut mit unserem Haus auf Rädern für die nächsten zehn Tage. Es rappelt tüchtig in den Schränken von Küche, Dusche, Wohn- und Schlafzimmer hinter und über der Fahrerkabine. Mit etwas Geschick würde der Platz dort auch für vier Erwachsene reichen. Allerdings lernen wir unsere Unabhängigkeit zu Zweit schnell schätzen. Wir sind auf einer Dienstreise, Ole als Kanadaspezialist aus Montreal auf Recherche, und ich von Globalscout aus Stuttgart als sein Stuntfahrer während der Drehs mit der Drohne. Oder als Koch, während Ole bereits seine ersten Postings von der Reise in den Sozialen Medien bloggt.
Tatsächlich ist unser Weg über Hunderte von Kilometern das eigentlich Aufregende. Als wir nach einer Nacht auf dem Bonanza Campground in Dawson City aufbrechen, sind wir einem richtigen Abenteuer auf der (Land-) Straße schon sehr nahe. Der Dempster Highway von Dawson nach Inuvik ist eine knapp 770 Kilometer lange Schotterpiste durch die Provinzen Yukon und Nordwestliche Territorien. Die Straße wurde 1979 eröffnet und nach William John Duncan Dempster (1876-1964) von der Royal Canadian Mounted Police benannt, der ab 1898 bis zur Rente 1934 im Yukon diente.
Ist der Truck vorbei, hagelt es aus der Staubwolke Sand und Schotter.
Kurve rechts! - Das musste bei all dem Geradeaus ja mal gesagt werden.
Unsere Wirtin auf dem Campingplatz in Dawson City hatte uns gewarnt: »Der Dempster windet sich wie eine lebende Schlange unter den Rädern!« Das hörte sich fast an wie: »Fremder, kehre besser um!« Aber unsere Wirtin widersprach damit auch den Spielverderbern, denen zufolge niemand in diese Gegend Kanadas fährt, der die wirklich große Action sucht. Die fände man am ehesten noch im historischen Casino von Dawson City.
Dempster Highway - der Weg ist das Ziel
Schon bald sind wir voll damit beschäftigt, unseren Truck Camper auf dem festgewalzten Schotter um die Schlaglöcher herum zu jonglieren. Und wir brauchen gute Nerven für das Duell mit den Macks, die mit 13 Achsen auf uns zubrettern. Diese Rolls Royces unter den Trucks ziehen eine riesige Staubwolke hinter sich her, aus der heraus sie unsere Windschutzscheibe noch immer mit Sand und Kieseln zuhageln, wenn sie längst hinter der nächsten Kuppe verschwunden sind.
Wer einigermaßen bei Verstand ist, einigt sich auf dem Dempster und den Rest des Trans Canada Highways rauf in den höchsten Norden auf den Weg als das Ziel. Wir müssten ansonsten schon ziemlich tief rechts und links der Straße ins Gelände zoomen, um die Abwechslung in diesem Kosmos zu würdigen. Das tun die wenigsten, trotz der klasse gemachten Naturführer zu Flora und Fauna der Region, die das Fremdenverkehrsbüro in Dawson anbietet. Dort gibt es auch stets die neuesten Infos zum Zustand der Highways.
Nach einem Blick auf den Tombstone, der weit entfernt wie ein Grabstein zwischen Bergen in den Himmel ragt, und dem gleichnamigen Visitors Center passiert lange Zeit nichts. Die Luft ist angenehm frisch, Reste festgebackenen Schnees tropfen in der Frühlingssonne vor sich hin. In den plätschernden Creeks schillern Eisblöcke in weißen, grünen und blauen Tönen auf ihre Weise schön. Viele der unzähligen Hügel in der Landschaft dürften wohl noch niemals von einem Menschen betreten worden sein.
Unser Truck Camper schwimmt inzwischen nahezu auf dem Dempster Highway. Weder Teer noch Beton können die Piste dauerhaft stabilisieren. Auch wenn es vor allem geradeaus geht, schlingert unser Adventurer teilweise wie auf Sand.
In den Creeks schmilzt blaugrünweiß der Rest des Winters dahin.
Der Dempster Highway führt über 770 Kilometer von Dawson nach Inuvik.
Vielleicht würden wir zwischendurch für länger aussteigen, verzichten aber darauf, uns die Beine zu vertreten. »Mal eben gucken gehen«, könnte böse enden. Selbst wenn nichts los zu sein scheint, kann zwischen krüppeligen Kiefern, die schon bald wie Pfeifenreiniger im Boden wurzeln, eine Bärenfamilie auftauchen. Von den kleineren schwarzen einmal abgesehen, gibt es hier die riesigen Grizzlys, die mit einem Tatzenschlag jeden Übermütigen erledigen können. Die Broschüren zur Natur des Yukon und der Nordwestlichen Territorien warnen zu Recht vor diesen Königen der Tundra, die nur scheinbar gemütliche Teddys sind. Sie können in Sekunden auf Maximalgeschwindigkeit beschleunigen und dann wie ein vollbesetzter Bus über einen hinwegfegen.
Unser nächster Zwischenstopp ist Eagle Plains, 380 Kilometer von Dawson entfernt auf halber Strecke bis Inuvik am Ende des Dempster Highways. Wie auf allen Raststätten mit angeschlossenen Campingeinheiten in Kanada hält man es auf Eagle Plains ganz gut aus. Irgendwie ist am Polarkreis jedes bewirtschaftete Fleckchen »die letzte Station«, bevor es dann möglicherweise gar nicht mehr weitergeht. Der Winter könnte es sich jederzeit anders überlegen und noch einmal zurückkehren.
Eagle Plains ist Restaurant, Motel, Tankstelle, Autowerkstatt und Campingplatz zugleich. Die Kellnerin schaltet uns gegen ein ordentliches Honorar auf ihren erbärmlichen Handy-Hotspot. Wir hätten ihr das Geld von vorherein als Trinkgeld gutschreiben sollen. Denn hier am Steiß der Welt ist es mit dem Webkontakt nach Daheim ohnehin schwierig.
Nach Eagle Plains verlassen wir die Provinz Yukon und sind dann wirklich in den Nordwestlichen Territorien. Wir surfen mit unserem Truck Camper weiter auf den Wellen, die der Dempster Highway wirft. Das meiste, gutgemeinte Porzellan in der Küche ist längst in Scherben zusammengekehrt und gerade noch ein gestieltes Weinglas ganz.
Menchenmännchen am arktischen Kreis. Nur auf der Durchreise.
Erdmännchen, ebenfalls am arktischen Kreis. Der neugierige Knirps wohnt hier.
Wir hoffen, dass unsere Windschutzscheibe den Meteoritenstürmen hinter den Trucks auf der Gegenspur überlebt. Dass der halbe Dempster durch Tür- und Fensterritzen in unser Wohnzimmer wirbelt, nehmen wir längst sportlich. Feuchter Schlamm von der Straße wäre schlimmer als der Staub überall dort, wo der Scheibenwischer nicht hinkommt.
Der Arktische Kreis
Zudem werden wir uns schon bald glücklich schätzen, dass wir eine vergleichsweise angenehme Reise erleben. Eagle Plains, so lesen wir, gleicht zu dieser Jahreszeit immer wieder einem Lazarett, in dem verunglückte Motorradfahrer nach einem überraschenden Schneefall auf den Rettungshubschrauber nach Dawson City oder Whitehorse warten. Der Dempster wird als Abenteuer (auf der) Straße leicht unterschätzt.
Bei all den Grau- und Brautönen fallen die Blumen angenehm auf.
Auch Schmetterlinge genießen auf Primel- und Erbsenarten den kurzen Sommer.
Kurz hinter Eagle Plains überfahren wir auf 66 Grad Länge und 33 Grad nördlicher Breite die offizielle Grenze zu den Nordwestlichen Territorien und somit den Arktischen Kreis. Die Fähren bei Fort McPherson bringen uns wenig später über den Peel River und an der Station Pelly Crossing über den Mackenzie. Anfang Juni und nach den Wintermonaten sind diese Verbindungen gerade erst freigegeben. Schon in drei Monaten wird der Highway wieder zuschneien, die Flüsse vereisen dann langsam und die Fähren überwintern hoffnungslos tiefgefroren. Wer mit dem Auto ans andere Ufer will, muss dann warten, bis das Eis dick genug dafür ist.
Viele der Berge hat bis heute wohl noch kein Mensch betreten.
Zweimal müssen wir mit der Fähre Bei Fort McPherson übersetzen.
Einige Kilometer nach der Überfahrt landet vor uns mitten auf der Straße ein lebensmüder Weißkopfadler. Ole steigt in die Eisen, lässt sich sein Fotohandy reichen. Der Adler schwächelt offenbar und humpelt mit einem Rest von Würde schließlich an den Straßenrand, notgelandet und weggeparkt wie ein deutscher Militärtransporter.
Wir kommen nach Feierabend in Inuvik an. Es ist wieder kurz vor Mitternacht und noch immer faszinierend taghell. Der Platzwart weist uns kurz angebunden unseren Standplatz zu. »Ihr wollt nach Tuk?«, fragt er und meint Tuktoyaktuk im Land der Pingos. Hinter Inuvik beginnt der neue Highway. »Kann sein, dass die Strecke stellenweise überhaupt nicht befahrbar ist und ihr umkehren müsst.«
Inuviks Kirche Our Lady of Victory ist einem Iglu nachempfinden.
Nach soviel Dempster tut ein Camping-Bier in der Mitternachtssonne gut.
Kurz nach Sonnenaufgang, den es hier wegen der Mittsommernacht gerade sowieso nicht gibt, machen wir uns auf die letzten 140 Kilometer. Der Inuvik Tuktoyaktuk Highway wurde nach vier Jahren Bauzeit erst im November 2017 als Allwetterstraße für das ganze Jahr eröffnet. Er ist die erste Überlandverbindung Kanadas zwischen dem Arktischen Ozean, dem Pazifik und dem Atlantik.
Die Hoffnung fährt auf dem neuen Highway immer mit
Trotz »ganzes Jahr befahrbar« und das »bei jedem Wetter« kann es sein, dass die Straße, die der Postbote morgens nach Tuktoyaktuk fährt, auf dem Rückweg abends weggeweht ist. Das passiert, wenn es tagsüber zu trocken war und der Sprühwagen für die Berieselung der Straße wegen einer Panne ausbleibt. Oder die Straße wurde vom Regen weggespült, weil hier ohnehin nichts anderes geht, als auf permafrostiger Tundra zu bauen. Wer keine breiten Hufe mit weichen Ballen hat wie Karibus oder eine wundersame Fähigkeit zur Leichtfüßigkeit trotz über 200 Kilo wie die Grizzlys, kommt rechts und links der Straße nicht weit.
Tatsächlich hört gleich hinter Inuvik unser Highway auf. Der Campingplatzwart hatte die CB-Funk-Trommeln richtig gedeutet. Auf der Baustelle vor uns schaufeln Bagger neuen Schotter und plätten Walzfahrzeuge, was von der abgesunkenen Straße noch übrig ist. Ole fürchtet, dass wir aufgeben müssen: »Weak shoulders!« Die Straßenränder sind bedenklich matschig oder schotterig und viel zu steil für unseren Fünftonner.
Owen Allen fährt täglich Post von Inuvik nach Tuktoyaktuk.
Einmalig dagegen dürfte die Motorradtour von Kalifornien bis Tuktoyaktuk bleiben.
Während wir uns noch beraten, kommt uns ein Jeep entgegen. Der Fahrer hält und kurbelt das Fenster herunter: »Got any problem?«
Klar haben wir ein Problem! Wie sollen wir mit unserem Ford-Bullen die Baustelle passieren, die er soeben mit seinem Floh heruntergewedelt ist? Er ist verantwortlicher Ingenieur dieses Straßenabschnitts und beruhigt uns: »Fahrt einfach der Walze hinterher. Wenn die mit 30 Tonnen oben bleibt, schafft ihr das mit eurem Halbstarken ebenfalls.«
Da hätten wir auch selbst draufkommen können. Auf in den Norden!
Willkommen im Land der Pingos! So heißen die Hügel mit einem Eiskern.
Viele Häuser in Tuktoyaktuk stehen wegen des durchnässten Bodens oft Pfählen.
Wir erreichen schließlich das Land der Pingos. Leider sehen wir sie nur von Weitem am Ortseingang der Halbinsel Tuktoyaktuk. Es sind spärlich bewachsene Erhebungen mit einem schmelzenden und sich immer wieder erneuernden Eiskern. Wer auf Tuktoyaktuk zufährt, nimmt sie als vorgelagerte Inseln oder Hügel wahr, von denen der höchste knapp 50 Meter hoch ist. Über 1.300 Pingos »wachsen« hier, bis sie irgendwann wie ein Geschwür aufbrechen und in sich zusammenfallen. Bis dahin lässt sich von den Pingos aus die Jagd gut vorbereiten. Denn darin sind die Einwohner Tuktoyaktuks nach wie vor gut. Neben Weißwalen gehört zur Beute manchmal auch ein Eisbär oder Karibu.
Wir haben richtig Glück. Denn heute ist der 5. Juni, und die Inuvialuit, »die wahren Menschen« von Tuktoyaktuk, feiern die Anerkennung ihrer angestammten Landansprüche durch die Regierung in Ottawa. Das Inuvialuit Final Agreement (IFA) von 1984 sichert den kanadischen Ureinwohnern »das Recht auf die Bewahrung der eigenen Identität und ihrer Werte in einer sich wandelnden Gesellschaft«.
Waffenstillstand mit den Wildgänsen
Kritiker behaupten, die Region lebe seit IFA von der Sozialhilfe, denn die steht Angehörigen der First Nations zu, selbst wenn sie an ihren Traditionen festhalten und moderne Erwerbstätigkeiten vermeiden. Andere Stimmen sprechen von einem bedingungslosen Grundeinkommen durch den Staat. Und tatsächlich leben die Menschen weitgehend so wie immer. Vergeblich auf Touristen zu warten und trotzdem Bed & Breakfast bereit zu halten, fällt den Inuvialuit schwer: Wer fischt schon, wo keine Beute ist! Bis auf die Motorradfahrer und vereinzelte Radfahrer sind ihre Gäste Selbstversorger und haben wie wir alles im Camper.
Zum politischsten aller Feste jeden Sommer haben sich die Feiernden in den Gemeindesaal Kitti Hall aufgemacht. Manche schließen dafür vorübergehend einen Waffenstillstand mit den Wildgänsen, kommen in winterfestem Parka und Gummistiefeln direkt von der Lauer. In Tuktoyaktuk leben knapp 900 Menschen, zwei Drittel davon schulpflichtige Kinder. Jeder kennt jeden und vermutlich auch dessen Garderobe.
Wettbewerb um den schönsten Outdoor-Teint. Ihn gewann die Frau in der Mitte.
Die Traditionen werden auch mit selbst genähter Kinderkleidung gepflegt.
In der Kitti Hall wird geschmaust, getanzt, getrommelt und gesungen. Es gibt ein Schaulaufen mit selbst genähter traditioneller Kleidung für Kinder und Erwachsene. Für die besten nachgeahmten Lockrufe der Wildgänse werden Jugendliche, Männer und Frauen in unterschiedlichen Klassen gekürt. Manche dieser Naturburschen haben weiße Ränder von den Schneebrillen im braungebrannten Gesicht. Kein Wunder bei 24 Stunden Sonne am Tag, an denen man die Nacht nur daran erkennt, dass alles zwischen den Pingos irgendwie dumpfer klingt.
Mit einer beeindruckenden Fellkapuze wurde diese junge Frau die Nummer 1 unter den Schneiderinen.
Zum Fest gibt es Maktaaq, was für mich klingt wie ein Befehl: »Mag das!«. Wenn man in Rom jedoch wie die Römer Teigwaren essen kann, geht das in Tuktoyaktuk auch mit was vom Wal.
Ich stellte mir ein medium gut durch gebratenes Kottelet vom Beluga vor. Dazu eine Portion Pommes rotweiß. Der Walfänger neben mir kann mit dieser Vision nichts anfangen. Als dann der Maktaaq-Stand öffnet, lassen die wahren Menschen mich freundlich vor. Aus den Töpfen brodelt es tranig mit einem stechenden Geruch. Bevor ich mich versehe, habe ich eine Schale mit knorpelig weißen Würfeln in der Größe von gerösteten Brotwürfeln aus der Haut eines Weißwals in der Hand.
Auf dem Weg zurück zu meinem Sitzplatz neben dem Walfänger verfolgen mich knapp hundert Augenpaare. Ob mir diese traditonelle Vitamin-C-Spritze der Inuvialuit schmeckt? In anderen Ländern mit anderer Haute Cuisine habe ich schon mal eine Schüssel mit gerösteten Raupen zurückgehen lassen. Mein Walfänger sieht jedoch ziemlich wehrhaft aus und kann anscheinend auch gut mit der Harpune umgehen. Ich probiere also Maktaaq. Es beißt sich wie Tintenfischringe mit einem leicht nussigen Aroma. Das kann man schaffen.
Mein neuer Freund hat mein Herantasten jedoch bemerkt und klopft sich vor Lachen auf die Schenkel. »Nimm ordentlich Schaschliksoße dazu!« Das geht schon besser, stimme ich zu. Und der Walfänger flüstert: »Mir schmeckt die Soße am besten – allerdings ohne Maktaaq!« Dann landet seine Hand kraftvoll auf meiner Schulter, er lacht wieder und verlässt den Saal.
In einer Pause des Hallenprogramms schaue ich vor dem Gemeindehaus dem Wettrennen der Kinder und dem Tauziehen der Bewohner gegen die Offiziellen der Stadt zu. Mein Walfänger steht da bereits seit einer halben Stunde in der Schlange vor dem Hamburger-Grill. – Auch in Rom gibt es nicht nur Spaghetti und Pizza, sondern vermutlich auch Döner.
Freunde und Helfer von der RCMP
Stark am Tau gegen die Inuvialuit sind auch die Beamten der Royal Canadian Mounted Police (RCMP). Sie verbringen jeweils mehrere Jahre im hohen Norden und leisten dabei eine Art freiwilligen Sozialdienst. In der Polizeistation verkaufen sie T-Shirts, Kapuzenjacken, Pullover und Mützen mit RCMP-Logo und der flachen Skyline von Tuktoyaktuk. Mit dem Erlös unterstützen sie Ausflüge von Schülern der Ilisarvik Mangilaluk Gesamtschule nach Inuvik.
Tuktoyaktuk hat sogar ein eigenes Fremdenverkehrsbüro. Die Mitarbeiterinnen freuen sich noch über jeden Besucher und verweisen zum Beispiel auf circa 60 Gästebetten, einen gut sortierten Supermarkt - wo die Tüte Kartoffelchips wegen der hohen Transportkosten ab 7 Dollar kostet - und auf die Pizzeria »End of the Road«.
Das Ende und der Anfang des Inuvik Tuktoyaktuk Highways.
Pater Robert Le Meur wurde neben der Lady of Lourdes bestattet.
Am tatsächlichen Ende der Straße in den Norden steht in Tuktoyaktuk das viel fotografierte Denkmal für den Beginn des Trans Canada Highways. Sogar die letzte Klo-Station in Blau und Weiß wirkt vor den zerbrochenen und übereinander geschobenen Eisschollen an der Küste malerisch. Neben der eingezäunten letzten Ruhestätte Robert Le Meurs (1920-1985) wenige Meter entfernt, ist wie eine Grabbeigabe die »Lady of Lourdes« aufgebockt. Mit dem umgebauten Fischerboot schipperte der beliebte Missionar ab 1946 viele Jahre lang zu den Menschen der Arktis, um das Evangelium zu verbreiten und zwischen Einheimischen, Militärs, Walfängern und Ölsuchern zu vermitteln.
Jetzt soll es in Tuktoyaktuk wegen des Inuvik Tuktoyaktuk Highways wirtschaftlich der Tourismus richten.
In wenigen Wochen wird für kurze Zeit der Kanal frei sein. Die Boote sind bereit.
Das vielleicht nördlichste öffentliche WC, bevor es wieder in den Süden geht.
Jenny Jocobson (46) ist Lehrerin an der Ilisarvik Mangilaluk Gesamtschule. Ihre Mutter kam mit der Kirche aus Schottland und lernte ihren Mann in Aklac kennen. Zu dieser Fly-in-Community gelangt man nach der Schneeschmelze mit dem Boot, im langen Winter mit dem Hunde- oder Motorschlitten, ansonsten mit dem Hubschrauber oder einer kleinen Propellermaschine. Jenny lebt seit sechs Jahren in Tuktoyaktuk. Sie und ihr Ehemann haben fünf gemeinsame Kinder und in 20 Jahren 28 Pflegekinder großgezogen.
Jenny Jacobson freut sich, dass in der Ilisarvik Mangilaluk Gesamtschule schon bald Biologie online bis zur Hochschulreife angeboten wird.
»Kinder sind uns Inuvialuit eben wichtig«, fasst sie zusammen. Ob der Highway neue Einnahmen generiert, wenn dadurch die Fremden kommen? - »Manche denken so, manche so.«
Sie selbst will nicht weg von Tuktoyaktuk und freut sich, wenn die Feiernden in der Kitti Hall die leckeren Kuchen und Torten der Hobby-Konditorin loben. Städte wie Whitehorse oder Vancouver sind ihr zu wuselig, und wenn, dann möchte sie einmal nach Schottland oder kurz nach Hawaii. »Vielleicht ist das wie Tuk, nur ohne Pingos, Karibus und wärmer«, sagt Jenny.
Dann toben schon wieder Kinder durch das zweistöckige Wohnhaus am Rand von Tuktoyaktuk. Bei so viel Besuch jeden Tag spielt das Chaos für Jenny keine Rolle mehr. Nur wer die Grenze ihrer Küche missachtet, bekommt selbst für arktische Verhältnisse eine Eiszeit der ganz anderen Art zu spüren.
Ole und ich schließen unsere Gespräche in Tuktoyaktuk ab und fahren nach einer Pizza im »End of the Road« wieder in den Süden. Über Inuvik, wo wir endlich meinen verschollenen Rucksack einsammeln, und Eagle Plains sowie einer Nacht auf dem Campingplatz Rock River mitten im Wald nähern wir uns dem Ende unserer Reise. Als großzügiges Geschenk von Mutter Natur begegnen uns entlang der Straße tatsächlich sogar zwei Grizzlybären auf Hochzeitsreise. Sie beschmusen sich fleißig und lassen keinen Zweifel daran, wer hier das Sagen hat.
Ein Grizzlypärchen trottet den Dempster Highway entlang, ...
... setzt die Hochzeitsreise dann aber auf der Anhöhe neben der Straße fort.
Wie mit einem gewaltigen Zeitsprung sind wir wenig später wieder am Anfang des Dempster Highways.
Dawson City hat sich am Zusammenfluss von Mackenzie, Yukon und Klondike den Mythos vom legendären Klondike-Goldrausch Ende des 19. Jahrhunderts bewahrt. Dazu beigetragen haben die Schriftsteller Robert Service (1874-1958) und Jack London (1876-1916). Ihre Blockhütten sind regelrecht Pilgerstätten für Touristen, denen sie mit Büchern und Gedichten den White Pass, den Chilkoot Trail, den Wahn rund um das Gold und so manches Pistolenduell nahebrachten.
Mit Veranda und fast alpin mutet die Hütte des Poeten Robert Service an.
Verglichen damit wirkt das Wohnhaus Jack Londons wie ein Geräteschuppen.
Dawson pflegt seine Geschichte mit Bürgern in Kostümen aus der Zeit des Wilden Westens. Die Bürgersteige rechts und links der ungeteerten Straßen sind aus Holz und knarren unter den Füßen. An den Häusern stellen sich Freimaurer und Geschäfte in Western-Serifen-Schriften vor.
Der Tempel der Freimaurer in der historischen Stadt Dawson City.
Die Klondike Spirit fährt statt Goldgräbern Touristen durch das Delta von Dawson.
Am Fluss hat wie einst ein Schaufelraddampfer für Rundfahren festgemacht. Wobei die Klondike Spirit nicht dampft, sondern von einem Dieselmotor angetrieben wird.
Wir essen Griechisch und werden dabei von Ferienjobbern aus aller Welt bedient. Im Diamond Tooth Gerthies besuchen wir danach eine klassische Musical-Show mit Künstlern aus Kanada und USA. Und ich werde ein richtiger Yukoneer, weil ich den Sour Toe küsse.
Das erste Haus am Platz ist seit 1898 die Spielhalle Diamond Tooth Gerties.
Neben einarmigen Banditen gibt es bei Gerties auch langbeinige Tänzerinnen.
In der Bar des Downtown Hotels, das mit diesem Ritual Spenden für den Denkmalschutz in Dawson sammelt, verspreche ich, das verschrumpelte Etwas im Schnapsglas nicht mit hinunterzuschlucken. »Du kannst dein Glas schnell oder langsam leeren, aber deine Lippen müssen den Sour Toe berühren!«, steht auf dem »Sour Toe Certificate«.
Der Legende nach ist der Sour Toe ein erfrorener Zeh, der einem Goldsucher abgenommen werden musste. Der Zeh wird kurz abgetupft und dann vom amtierenden Sour Toe Captain wieder in ein Glas Schnaps geworfen, das am besten auf Ex geleert wird, damit der Kuss nicht zu lange dauert. Der nächste Yukontourist wartet schließlich schon auf seine rituelle Einbürgerung.
Der rituelle Kuss des Sour Toes macht aus Reisenden Yukoneers.
Shooting mit Ole um Mitternacht. Ohne Knarre, stattdessen mit der Kamera.
Und dann sind wir schon wieder auf der festen Straße, die uns nach dem Inuvik Tuktoyaktuk Highway und dem Dempster nun gar nicht mehr abenteuerlich vorkommt. Nur noch 532 Kilometer bis Whitehorse! Die Erde hat uns wieder nach unendlichen, zu dieser Jahreszeit meist staubigen Weiten mit einer Handvoll Begegnungen zwischen den Campgrounds von Tombstone, Eagle Plains und der Pizza mit allem in Tuktoyaktuk.
Gestern noch haben wir unseren liebgewonnenen Truck Camper abgekärchert und sind jetzt wieder ganz normal Touristen im schick strahlenden Adventurer von Fraserway. Wenn unser letztes Weinglas noch immer heile wäre, könnten wir uns jetzt einen gepflegten Schluck daraus teilen.
In Whitehorse übernachten wir im »Hi Country RV Park«, einem Campingplatz in der Größe einer Kleinstadt mit einer seitenlangen Not-To-Do-Liste, in der sogar die Schlafenszeiten geregelt sind. Das Internet fährt nach einer halben Inklusivstunde herunter. »Premium« kostet extra, aber erst ab 8 Uhr morgens, wenn die Verwaltung wieder aufhat. Hier ist nichts mehr wild und natürlich, sondern alles mit nahezu preußischer Disziplin geregelt.
Der Gegensatz zum hohen Norden ist heftig.
Wir baden uns den restlichen Staub der Highways in den Thermalquellen am Lake Takhini von den Körpern. Das ist nicht weit von Whitehorse entfernt. Die Schilder zu den Umkleidekabinen sind auf Englisch, Deutsch – und Mandarin. China ist gefühlt ziemlich weit weg. Schade, dass uns das auch mit dem Land der Pingos schon bald so gehen wird.
Text: Peter Kensok, Globalscout; Bilder: Peter Kensok und Ole Helmhausen, Montreal (2)