- Pilgernd durch das fremde Japan
»Alle Japaner sind höflich. Niemand hat dort eine eigene Meinung, und zum Frühstück gibt es rohen Fisch.« - Um seine Vorurteile zu erschüttern, folgt Thomas Bauer entlang einer Strecke zu 88 Tempeln dem ältesten Pilgerweg der Welt. Auf etwa 1.000 Kilometer rund um die japanische Insel Shikoku herum begegnet er dabei immer wieder auch sich selbst.
»Itadakimasu«*, sagt Herr Matsugami und lächelt unergründlich. Erfolglos suche ich im Gesicht meines Gastgebers nach einem Hinweis, wie ich mich verhalten soll. Hat er gerade einen Witz gemacht? Soll ich lachen oder wäre das unangebracht? Ich probiere es mit einem freundlichen Augenaufschlag und senke gleich darauf den Blick auf das vor mir stehende Tablett.
»Wie ich versuchte, 88 Tempel zu erobern ...«
Herr Matsugami hat Köstlichkeiten der japanischen Küche zu einem Gesamtkunstwerk komponiert. Schälchen mit rohem und gebratenem Fisch grenzen an andere mit Reis und Algen. In der Mitte von alldem steht eine dampfende Schüssel Miso-Suppe, auf der zwei hölzerne Essstäbchen liegen.
Erst der Blinddarm, dann die Galle. Irgendwie schien Japan ihn nicht haben zu wollen. Er hätte bestenfalls noch eine Niere anbieten können, scherzt Thomas Bauer. Doch nach mehreren Anläufen schaffte er es nach Shikoku. Wandernd. Pilgernd. Und angenehm nachdenklich stellt er seine Ahnungen zu Japan infrage.
Was ist das nun wieder? Will man herausfinden, ob der ausländische Gast dumm genug ist, zu versuchen, eine Suppe mit Stäbchen zu essen? Herr Matsugami bietet mir keine Anhaltspunkte, wie ich Suppe und Besteck kombinieren könnte, da er in einer Sprache, die er für Englisch hält, auf mich einspricht, während er mit seinen Stäbchen beiläufig einen Fisch entgrätet. Da kommt der Sohn des Hauses in den Frühstücksraum der Pension. Lässig schöpft er sich zwei Löffel Suppe, fläzt sich auf seinen Platz und schlürft die Schüssel aus. So macht man das also.
Im Folgenden sollte Japan seine besten Trümpfe ausspielen. Danach hatte es zu Beginn nicht ausgesehen: Immer wenn ich nach Asien reisen wollte, hatte ich kurz zuvor eines meiner Organe verloren. Wenige Tage vor meinem Abflug nach Vietnam war ich den Blinddarm losgeworden. Meine Reise nach Japan hatte ich zweimal verschieben müssen. Zuerst hatte mich eine Grippe ans Bett gefesselt, dann hatte man mir die Gallenblase aus dem Bauch geholt. Vielleicht sollte ich seltener nach Asien aufbrechen: Eine Niere könnte ich noch hergeben, dann wird es wirklich eng.
An jedem Tempel erhält der Wanderer einen kunstvoll gemalten Eintrag in sein
Pilgerbuch. Und entlang der Strecke immer wieder Talismane.
Indem ich nach Osaka geflogen war, hatte ich mich ins Zentrum der weltweiten Entwicklung begeben. Und das ist mein Problem: Ich bin die deutsche Landpomeranze, die sich in der Großstadt zurechtfinden muss und den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Wohin ich mich auch wende, überall fließen Menschen aus Läden und Restaurants. An Querstraßen bleiben sie wie auf Knopfdruck stehen. In vier Minuten können Hunderte, manchmal Tausende zusammenkommen. Wenn die Fußgängerampel auf grün springt, setzen sie sich so synchron in Bewegung, als seien sie Teile einer unsichtbaren Maschine, an der jemand einen Hebel umgelegt hat. Niemand beachtet mich, keiner sieht mich an.
Ich verstehe gar nichts, und es ist schlichtweg egal, ob ich hier bin oder nicht.
Im Zentrum dieses Wahnsinns hat man in einem »Kapselhotel« Röhren wabenförmig aufeinandergestapelt. Man klettert eine Leiter empor, legt sich in eine sterile Box und zieht eine Jalousie herab. Natürlich hat man einen Fernseher in den Raum integriert. Er ist so hypermodern, dass ich ihn nicht einmal anbekomme. Auch die Sauna ein Stockwerk höher kann ich nicht nutzen. Der Anblick meiner Tätowierungen sei anderen Gästen nicht zumutbar, hat man mir erklärt.
Japan, das ist in erster Linie eine kühne Behauptung: jene nämlich, dass man sechseinhalbtausend Inseln zu einer Kultur zusammenfassen kann. Da gerade einmal 400 dieser Inseln bewohnt sind, ballen sich die Einwohner in einem für Europäer schwer vorstellbaren Ausmaß an den schmalen Küstenstreifen. Einen Monat lang würde ich sie besuchen: Auf einem der ältesten Pilgerwege der Welt würde ich die japanische Insel Shikoku umrunden und dabei ins Gespräch kommen mit Pilgern, Passanten und Pensionsbesitzern.
Dabei hoffe ich einige meiner Vorurteile loszuwerden: Ging ich bislang doch davon aus, dass alle Japaner bis zum Umfallen arbeiteten und immer im Beschäftigungsmodus waren – ein Volk aus Duracell-Hasen, angetrieben vom Gefühl der Scham. In Deutschland wären sie alle Mitglieder der Jungen Union; die Klassenbesten, die niemand mag.
Was den Altvorderen die Singenden Steinwächter waren, ...
... das sind den Heutigen vielleicht die Winkekatzen.
Aber stimmt das wirklich? Ich möchte es herausfinden. Im ersten von 88 buddhistischen Tempeln verwandelt mich die Angestellte in einen o-henro, einen Pilger. Als ich den Laden verlasse, trage ich einen mit Plastik überzogenen Hut, einen verzierten Pilgerstab und ein kimono-ähnliches Baumwollhemd. All das ist weiß, die Farbe des Todes, verstanden als Überwindung der Begierden und Übertritt zum Nirwana.
Bis ich dort ankomme, muss ich einige Hürden überwinden. »Gesutohausu«, sagt ein junger Mann und blickt mich fragend an. Zum Glück zeigt er dabei auf eine kleine Straße. Ja doch, nicke ich, dort gebe es ein »guesthouse«. Das Japanische zerlegt jedes Wort in Silben, und die bestehen aus einem Konsonanten, dem ein Vokal folgt. Ich kenne mehr japanische Wörter, als ich gedacht habe. Sushi und Wasabi, Taifun und Tsunami. Karaoke und Kamikaze.
Sogar einige Begriffe aus dem Deutschen gibt es: Anzailen sagt man hier, die »Berghütte« heißt hyutte. Besonders schön finde ich den kontorabasu, den »Kontrabass« also, und natürlich den orugasumusu – Sie wissen schon … Schwierig wird es, wenn sich in anderen Sprachen Konsonanten aneinanderreihen. Da wird das »Restaurant« zu resutolan und das Geschenk (»present«) zu palesentu.
Jeder der 88 Stationen auf der Tempelroute von Shikoku steht für eine Begierde, von denen sich die Pilger verabschieden sollen. Am Ziel bleibt die Erkenntnis für wirklich Wesentliches wie Ruhe, Gelassenheit, Großzügigkeit und Mitgefühl.
Abgesehen von diesen Unannehmlichkeiten gleiten meine japanischen Mitpilger zielstrebig wie Billardkugeln voran. Nie pausieren sie zwischen zwei Tempeln, auch wenn diese zwanzig Kilometer auseinanderliegen. Nie essen sie etwas, solange sie unterwegs sind. Viele haben sich blecherne Glöckchen um den Stock gebunden: Das dauernde Klingeln hält ihre Gedanken auf den Weg gerichtet. Nirgendwo sonst habe ich ernsthaftere Pilger gesehen.
Verglichen mit diesen Wegprofis tapse ich voran wie ein unsicherer Hundewelpe. Warum muss es regnen, frage ich mich, warum führt der Weg so nah an der Straße entlang, und bin ich hier überhaupt richtig? Erst ein Junge gibt mir die Gelassenheit, die ich so dringend brauche. Natürlich läuft die gegenseitige Vorstellung erst einmal gründlich schief. Als er bei der vierten Silbe seines Namens ankommt, habe ich die ersten beiden bereits wieder vergessen. Er komme von Hokkaido, vertraut er mir an, ganz im Norden Japans.
»Und willst du den ganzen Pilgerweg gehen?«
»Klar, er ist der Höhepunkt meiner Wanderung.«
»Der Höhepunkt?«
»Ja. Wie gesagt, ich komme aus Hokkaido.«
»Zu Fuß?«
»Ja, ich bin einmal längs durch Japan gezogen. Der Shikoku-Pilgerweg markiert die Halbzeit. Dann geht es wieder zurück.«
»Du gehst also sechstausend Kilometer zu Fuß, zeltest bei Wind und Wetter draußen und kochst dir dein Abendessen selbst?«
»So kann man das zusammenfassen.«
Ein Deutscher hätte diese Information vermutlich, als flotter Spruch zusammengefasst, auf einem T-Shirt herumgetragen. Dem Jungen hingegen muss ich die Neuigkeit erst aus der Nase ziehen. »Tüchtige Falken verstecken ihre Krallen«, behauptet der Bushido, der Ehrenkodex der Samurai, die in Japan 700 Jahre lang das Ideal männlicher Tatmenschen dargestellt haben. Ein Erbteil davon steckt vielleicht auch in dem Jungen, der Regen und Wind nicht zu bemerken scheint und mir nebenbei erzählt, dass er 3000 Kilometer nordöstlich unseres Treffpunkts aufgebrochen ist.
Als sich unsere Wege trennen, wünsche ich dem Jungen einen schönen Abend und verbeugte mich linkisch. Daraufhin neigt er sich formvollendet zur Erde, weitaus tiefer, als ich es getan habe. Jetzt verbeuge ich mich so tief, dass der Rucksack beinahe meinen Rücken hinauf zum Hals rutscht. Das nutzt mir aber gar nichts, da sich mein Gegenüber sofort noch tiefer verbeugt. Seine Pose erinnert inzwischen an komplizierte Haltungen aus dem Ashtanga-Yoga. Da gebe ich auf und bleibe einfach stehen. Ich fühle mich unwohl dabei; er offenbar auch. Er dreht sich zu mir um, geht fünf Meter rückwärts, auf denen er sich ständig verneigt, droht kurz zu stolpern, fängt sich aber gleich wieder und zieht endlich winkend von dannen.
Mit Shabu-shabu, dem japanischen Öl- oder Kochend-Wasser-Fondue, hat dieses Pilgerfrühstück nichts zu tun. Eine reiche Auswahl für die nächste Etappe der etwa 1.000 Kilometer rund um Shikoku.
Drei Wochen sollte es dauern, bis ich mich in diesem Land halbwegs zurechtfinde. Aber selbst dann noch verstehe ich dauernd alles falsch.
»Shabu-shabu«, sagt ein Mitpilger, als wir vor einer Art Feuertopf sitzen, und noch bevor ich mir ausmalen kann, ob das vielleicht das japanische Pendant zum Boogi-Woogie ist und er ein Tänzchen von mir verlangt, zeigt er auf eine silberne Schüssel.
Shabu-shabu bedeutet, dass man Fleischstückchen und Gemüse in siedendes Wasser wirft und anschließend versucht, das Gewünschte mit langen, besonders unhandlichen Stäbchen wieder herauszuangeln. Man könnte meinen, dass es nur erfunden worden ist, um ausländischen Japanbesuchern Gelegenheit zu geben, sich zu blamieren.
»Lonpari«, sagt mein Gegenüber unvermittelt.
»Bitte was?«
»Na, der Mann, der dir gegenübersitzt. Fällt dir was an ihm auf?«
»Ja, er schielt.«
»Eben, er ist ein lonpari. Mit einem Auge schaut er nach London, mit dem anderen nach Paris.«
Mein Mitpilger krümmt sich vor Lachen. Das hatte ich unterwegs oft erlebt: Hinter dem normierten Auftreten steckt nämlich nicht selten ein eigenwilliger Geschmack, eine unerwartete Vorliebe oder ein abstruses Hobby. Wahrscheinlich können sich viele Japaner so uniform geben, eben weil sie tief in ihrem Inneren um ihre Einzigartigkeit wissen. Genauso verhält es sich mit dem Land: In seiner Geschichte von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer lässt Michael Ende einen Scheinriesen auftreten, der kleiner wird, je näher man ihm kommt.
Manche pilgern die Strecke sogar mehrfach, um ihre Akkus für die Erleuchtung bestmöglich aufzuladen.
Erst am Schluss also habe ich meine Vorurteile über Bord gespült und bin ein Stückweit angekommen in Japan. Das hat mir der Pilgerweg von Shikoku ermöglicht. Dabei hätte ich es auch einfacher haben können. Ich hätte mir zum Beispiel einen Agenten kaufen können, der die Tour für mich übernommen hätte. Entsprechende Angebote beginnen bei 1500 Euro.
Am schönsten finde ich die Offerte einer Reiseagentur aus Kyoto. Sie bietet an, dass man, statt selbst die Insel zu umrunden, sein Kuscheltier auf den Weg schickt. Die Teddys und Plüschlöwen werden unterwegs nicht nur fotografiert, sie schreiben auch Grußbotschaften in den sozialen Netzwerken.
Stattdessen bin ich einen Monat lang in diesem herrlich undurchschaubaren, künstlich verkomplizierten und ästhetisch verklausulierten Land unterwegs gewesen. Und auf den letzten Kilometern geht es mir richtig gut. Japan verlangt den langen Blick.
Ki ni iru, sagen die Japaner, »das gibt mir ein gutes ki«.
Damit meinen sie, dass alles im Lot ist, dass man bei sich ist und merkt, dass dieser Kerl, auf den man da trifft, trotz allem eigentlich ganz okay ist. Mein ki schlug Purzelbäume, als ich den 88. Tempel erreichte. Sie glauben mir nicht? Dann probieren Sie es einfach aus! Machen Sie sich selbst auf den Weg – und bitte: Ki o tsukete – passen Sie dabei auf Ihr ki auf.
Thomas Bauer, Reisebuchautor, lebt in Stuttgart und München. Sein Buch »Fremdes Japan« erschien im MANA Verlag, Berlin. Die Besprechung dazu finden Sie hier.
Text und Bilder: Thomas Bauer; Redaktion: Peter Kensok, Globalscout