- Am Biker-Berg ruft's »Klingeling!«
Was in den 70er Jahren in Kalifornien begann, ist längst auch in den Allgäuer Bergen angekommen: Mountainbiking. Biker und Wanderer werden sich langsam grün. Das »etwas andere Fahrradfahren« in den Bergen rund um Fischen und Oberstdorf im Allgäu ist noch immer eine besondere Kultur und damit ein Globalscout-Thema. Auch wenn die Trail School im neuen Explorer-Hotel gerne Fortgeschrittenen den letzten Schliff gibt, darf man hier auch als Anfänger das Abenteuer Mountainbiking wagen.
Schon gleich nach der Ankunft fühlen wir uns schlagartig eine Generation jünger, denn genau dafür ist das Hotel Explorer in Fischen (Allgäu) an der Grenze zu Oberstdorf gemacht. Die Preise sind günstig, die Zimmer einfach, verzichtet wird auf alles, was nicht wirklich notwendig ist. Jedenfalls wenn man die eigentlich angestrebte Zielgruppe befragen würde: junge Familien und Jugendliche. Die wollen eben keine Schränke, in denen sie wie im Hotel Mama ihre Klamotten ordentlich ablegen müssten. Dafür reichen Garderobenhaken an den Wänden. Viele verzichten auch auf den Zahnputzbecher im Bad, würde der Extrakosten verursachen.
Robin Kämmerle von der Trail School passt im geräumigen Empfangsbereich des Hotel Explorer das Rad der Sportlerin an. (PK)
In beheizten und belüfteten Schließkabinen trocknen die Sportgeräte - im Winter Skier und Boards, im Sommer Bikes. (PK)
Statt Schränken und Standards im Bad steht das jüngere Publikum auf schnellen WLAN-Anschluss im ganzen Haus und die beiden WII-Geräte im Foyer, wo sie am Bildschirm Kegeln oder andere Spiele spielen können. Irgendetwas an Kommentarmöglichkeiten im Sinne von Facebook sollte es auch geben. Wer nicht reden will, "postet" eben. Das Explorer-Hotel programmierte dafür eine Klubumgebung und ist nahezu in Echtzeit auch beim späteren Besuch des Hotels via Internet erreichbar. So bindet man junge Gäste, die dann Fans oder Freunde heißen: Wenn schon Urlaub, dann günstig und unkompliziert. Auch das »Sie« wird als Anrede gegen das »Du« ausgetauscht, das ist ebenso sportlich wie für Gäste und manche Mitarbeiter noch immer ungewohnt. Aber es macht den Urlaub von Anfang an familiärer.
High-Tech-Bremsen erfordern Gefühl in den Fingerspitzen, erklärt Vossy Gardoni. von der Trail School. (RS)
Völlig losgelöst von der Erde. Der Sprung über ein Hindernis gehört zum Standard fortgeschrittener Biker. (RS)
Im Winter kann man das Radfahrerpublikum bedenkenlos gegen Skifahrer austauschen. Aber jetzt ist Sommer, und Sommer ist anders, so wie Fahrradfahren nicht gleich Fahrradfahren ist. Im Explorer-Hotel spricht man von Biken auf Single Trails je nach Fahrkönnen mit der Schwierigkeitsstufe 2 und 3 (von fünf möglichen) und von Kondition der Stufe 2 und 3, was immer das heißen mag. Auch von Höhenmeter rauf und runter ist die Rede, von All-Mountain-Bikes und Enduros. Wir fahren nicht Rad, sondern Riden for Fun.
Die erste Lektion der angedockten Trail School an diesem Morgen lautet denn auch: Nenne nie ein Bike bloß Fahrrad! Zweitens: Frage Biker niemals, wo denn bei einem Enduro der Motor sitzt! Das gilt als unverzeihliche Bildungslücke und disqualifiziert für die schweren Trails im Gelände. Wer so wenig Ahnung hat, wird auch nicht über die Akrobatik verfügen, die für Stock, Stein und Sprünge zur Grundausstattung gehören.
Dabei haben selbst die ausgebauten Abfahrten entlang der Hörnerbahn, auf denen sonst Wanderer durch die herrliche Landschaft pilgern, es noch ausreichend in sich.
Acht Kilometer vom Explorer-Hotel entfernt beginnt an der Station Bolsterlang die Fahrt hinauf zum Bolsterlang-Horn. Ich sitze in der Hörnerbahn und schaukle über die Mittelstation bis ganz hinauf zur Endstation. Mein einziger Begleiter in der Kabine ist ein vier- bis sechstausend Euro teures Bike, dass zuvor auf mein Körpergewicht, meine Beinlänge, meine Sitzhöhe und erwartete Federwege eingestellt wurde. Soviel Vorbereitung lässt ahnen, dass es heute ziemlich aufregend den Berg hinunter gehen wird.
Sammlung vor der Abfahrt: Die Gruppen sind eingeteilt, die Begleiter zugeordnet. Das Abenteuer beginnt. (PK)
Gleichgewicht und schnelle Reaktionen sind auf den Trails im Gelände gefordert. Schieben ist keine Schande. (RS)
Zeit zu rekapitulieren, was ich zuvor in der Anfängerklasse der Trail School von Robin Kämmerle, von Daniel Binzer und Vossy Gardoni noch gelernt habe.
Die Einführung der Trail School dauert in der Regel etwa fünf Stunden. Die Biker üben, engste Kurven zu fahren, das Gleichgewicht bei waagerechtem Pedalstand und sogar stehendem Bike zu halten. Sie stellen den Sattel auf der Straße und beim Aufstieg hoch und bei Abfahrten ganz nach unten, damit sie sich bei steilen Passagen für einen günstigen Winkel fast aufs Hinterrad setzen können. Vossy zeigte uns, wie man mit dem ganzen Bike über Hindernisse springt, bei voller Fahrt nur das Vorder- oder nur das Hinterrad anhebt und beides nacheinander aus dem Stand heraus seitlich versetzt.
Okay, das ist dann vielleicht schon etwas für die Abiklasse der Trail School und fortgeschrittene Biker, die Geländestrecken abgrasen wie die Kühe die Weiden auf der Alm unter meiner Hörnerbahn-Kabine. Ich bekenne mich dagegen zu der Zielgruppe derjenigen Biker, die offen sind, sich für eine neue Sportart begeistern und die Berge nicht den Top-Bikern allein überlassen zu wollen.
Noch bin ich also in der ersten Klasse und interessierte mich bei der Vorbereitung unserer Abfahrt vor allem für die Scheibenbremsen, die Bremsflüssigkeit und die Bremskolben. »Schon ab Druckpunkt und mit einem einzigen Finger beginnen die Bremsen zu schleifen«, hatte Vossy gesagt und vorgeführt, dass die Räder in Sekundenbruchteilen blockieren, wenn er etwas kräftiger zulangt. »Hinten geht ja noch«, hatte ich gesagt, »aber falls ich mich auf vorne verbremse ...?« »Nun ja, Helm, Bein- und Ellenbogenschoner gehören eben dazu«, wirft Robin Kämmerle ein und warnt, »dass mir ja keiner ohne Handschuhe fährt!«
Trotzdem hatte ich Vossy nach seinen schlimmsten Verletzungen in 15 Jahren auf dem Bike gefragt. »Ein Ellbogen-, ein Schienbein- und ein Schlüsselbeinbruch«, antwortete er. Geht ja noch. »Dass mit dem Schlüsselbein ist in einem Wettbewerb passiert, ich lag ziemlich weit vorne, habe mich dann einfach tapen lassen und bin Zweiter geworden.«
Das Design-Budgethotel Explorer von Fischen im Allgäu ist das erste ISO-zertifizierte Passivhotel Europas und nicht nur wegen des Anstrichs ein Green-Building: Es sei »100 % emissionsneutral« und verursacht laut Prospekt »95 % weniger CO2« als Hotels vergleichbarer Größe. In den 76 Zimmern übernachten meist sportlich-aktive Gäste, die vor allem jung sind oder sich noch immer jung fühlen. Viele kommen aus dem Ausland, und alle verbringen die meiste Zeit in der Natur.
Für knapp 30 Euro pro Person und Nacht und nur 15 Euro für alle Bergbahnen in Oberstdorf und im Kleinwalsertal verzichten die Gäste daher gerne auf unwesentlichen Komfort, zumal die Qualität des Übrigen stimmt: Sport-Spa mit Fitness- und Cardio-Geräten, Dampfbad, Sauna oder Infrarotkabine gehören dazu, außerdem beheizte und belüftete Schließfächer für die Sommer- und Wintersportgeräte.
»Unsere jüngeren Gäste«, sagt Geschäftsführerin Alexandra Gellisch vor der Kommentarwand im Foyer, »kommen mit den zweckmäßigen Möglichkeiten des Explorer- Hotels bestens zurecht.« Im Dezember 2010 eröffnet, bucht das Hotel inzwischen auch viele ältere Besucher. »Unsere Gäste im Rentenalter freuen sich, mit Jugendlichen zusammen zu sein. Ohnehin verbringen sie die den ganzen Tag mit Wandern, Spazierengehen und Radfahren.« (Bild oben HE, unten PK)
Langsam nähert sich meine Hörnerbahn-Kabine der Bergstation. 1586 Meter über dem Meeresspiegel ist die Luft ein bisschen dünner. Und reiner als im Stuttgarter Kessel sowieso. Ein Teil unserer Gruppe, die sich für ein Vorher-Foto an der Bergstation ablichten lässt, kennt sich mit Enduros und All-Mountain-Bikes bereits bestens aus und darf gleich mit auf die Extremtrails.
Die Anfänger, die sich ihre Querfeldein-Rekorde für später oder ein anderes Leben aufheben wollen, wählen einen angemesseneren Zugang zu ihrer neuen Sportart. Auch sie werden bis unten im Tal über 700 Höhenmeter bewältigen. Noch jedoch lassen unsere freischaffenden Begleiter, Daniel Binzer und Caroline Nautke, ihre Sättel oben.
Wir müssen noch ca. 150 Höhenmeter auf dem Bolsterlang-Horn bewältigen. Manche schaffen das sofort und kurbeln sich im niedrigsten Gang zur Hütte hoch. Ich ziehe es vor, die letzten Meter bis zur Einkehr zu schieben.
»Das sieht doch gleich nach Urlaub aus«, sagt Andreas, der sich sonst eher im Judo zuhause fühlt. Hüttenmäßig Deftiges gibt es für den, der will, Kaffee, Kaiserschmarrn und Germknödel - und die noch immer schneebedeckten Gipfel weit höherer Berge am Horizont.
Dann jedoch heißt es auch für uns Anfänger: »Sättel runter!« Und gleich sieht "bergab" fast schon wie eine Strecke auf der Ebene aus. Aber eben nur fast. Die Profis vom Paralleltrail werden am zünftigen Abend in der Wannenkopfhütte zwischen den Liedern von Toni mit der Quetschkommode davon erzählen, wie sie über Steine und Wurzeln setzten und manchmal über nasse Wiesen die Bikes tragen mussten, weil die Räder trotz des groben Profils nicht mehr fassten. An anderen Stellen wären sogar Wanderer von den Pfaden herausgefordert gewesen, so schmal und unüberschaubar seien die Trails. Hier mussten selbst die richtig Guten runter vom Bike.
Das jedoch ist erst später am Abend und ich weiß das in diesem Augenblick ohnehin lieber erst einmal nicht. Ich schiebe die Gedanken an gebrochene Schlüsselbeine, Schienbeine und Ellbogen beiseite. »Keine Sorge«, sagt Daniel Binzer, »wenn etwas mit den Bikes schief geht, reparieren wir Guides das sofort. Und falls jemand sich schwer verletzen sollte, dann rufen wir die Bergwacht und fliegen ihn aus.« - Nein, dann doch lieber von selbst im Tal heile ankommen!
Pause vor der nächsten Etappe. Caroline Nautke (rechts) arbeitet als Grafikerin, wenn sie nicht gerade Berge erradelt. (PK)
Weidevieh, Wanderer und Biker: Mit Rücksicht kommten alle miteinander zurecht. (PK)
Heute sind nur wenige Wanderer unterwegs, deshalb brauchen wir Trail School-Schüler nur selten »Klingeling!« rufen oder gar abbremsen und absteigen, um das Fußvolk vorbei zu lassen. Richtige Klingeln gibt es an unseren Sportgeräten nämlich nicht. Die wären, wie Schutzbleche über den Reifen und der Zahnputzbecher im Explorer verzichtbarer Ballast. Die »Ideallinie« im Gelände sei eben, dass Biker sich rufend bemerkbar machen, den Wanderern den Vortritt lassen und beide aufeinander Rücksicht nehmen. Nur deshalb haben die Behörden von Stadt und Land den Bikern die Berge erlaubt.
Anders als beispielsweise in den Rocky Mountains von Kanada, in denen diese Sportart schon länger zuhause ist, sind die Berge rund um Oberstdorf das ganze Jahr über eben relativ dicht bevölkert. Kühe gehören auch dazu. Sie scheinen sich daran gewöhnt zu haben, dass nicht Heidi mit den Zöpfen für den Almabtrieb die Gatter über den Wegen öffnet, sondern immer wieder auch behelmte Biker, die dann in unglaublichem Tempo die geschotterten Wege hinabrasen. Gute Bremsen und eine korrekte Bremstechnik sind da Gold wert.
Shireen geht dabei auf Nummer sicher: Schotter und steil bergab sind ihr nicht geheuer. Lieber schiebt sie auch dort bergab, wo unsere Kollegin Yvonne tüchtig bremst. Ihr Bike riecht schon bald wie ein ICE bei der Einfahrt in den Kopfbahnhof. Bei meinem Bike reichen auch die Abkühlpausen an den Weidezäunen nicht mehr, dass die Bremsflüssigkeit für die Hinterradbremse herunterkühlt. Schließlich gibt es überhaupt keinen Druckpunkt mehr und für den letzten Kilometer bergab muss die Vorderradbremse reichen.
Sie reicht auch, und alle anderen Biker kommen ebenfalls heile im Tal an. Dank auch großartiker Trail School Guides mit Gespür für Mensch und Technik. Wir fahren über Obermaiselstein gemütlich zurück zum Explorer-Hotel, spritzen dort unsere Bikes vom Weidedreck und Schlamm sauber und verabschieden uns von unserem jeweiligen Gefährt. Ein kleines Abenteuer liegt hinter uns, über das wir im Spa-Bad, in der Sauna und in der Infrarotkabine des Hotels schwärmen.
Volksmusikant Toni mag es zünftig in der Wannenkopfhütte. Er singt für Biker und Wanderer gleichermaßen. (PK)
Mit einer Fackelwanderung endet das Abenteuer Mountainbiking für diesen Tag. Die Enduros warten schon wieder. (PK)
Abends bei Käsespätzle und Gebratenem in der Wannenkopfhütte erfahren wir, dass die Begegnung von Wanderern und Bikern nicht immer einfach und auch der Transport von Bikes in den Kabinenbahnen noch ungewohnt ist. Erst nachdem Verhaltensregeln festgelegt waren - »Wanderer vor Biker« - beginnen sich die unterschiedlichen Zielgruppen im Allgäu einander anzunähern. Biker bringen eben gerade dann Geld in die Gegend, wenn Skifahren nicht mehr geht.
Das Explorer-Hotel hofft auch in den schneefreien Jahreszeiten mehr sportlich Interessierte in den Allgäu zu locken und dabei Bedarfe abzudecken, die von den traditionellen Hotels des Ski- und Wanderressorts nicht bedient werden. Tatsächlich deuten sich jedoch bereits Partnerschaften an.
Alt und Jung machen in Fischen und Oberstdorf wieder gemeinsam Urlaub. Die älteren Mitglieder einer Familie genießen zum Beispiel den vollen Komfort mit Saunalandschaft und hervorragender Küche im Hotel Oberstdorf sowie die eher milderen Aktivitäten im Freien. Die Jüngeren der Familien werden im Hotel Explorer untergebracht. Mit unempfindlichen Materialien, Internet, Werkstattmöglichkeit, Schließkabinen für Fahrräder und Ausrüstung zu günstigen Preisen. Und einem McDonald‘s Drive-In direkt nebenan, der bis 24 Uhr offen hat. Aber das ist Zufall.
Text: Peter Kensok; Bilder: Peter Kensok (PK), Roland Schopper (RS), Hotel Explorer (HE)